OP , Von Christian Düncher 06.10.2023
Manuel Wilhelm, Sportvorstand von Rugby Deutschland, spricht im Interview über Ungerechtigkeiten bei der WM in Frankreich und den deutschen Weg
Offenbach – Bei einer Rugby-WM in der traditionellen Variante (15 Spieler pro Team) war Deutschland noch nie dabei. Viele Spiele sind hierzulande dennoch im Free-TV zu sehen. Einer der Kommentatoren ist Manuel Wilhelm (42). Im Interview spricht der Sportvorstand des nationalen Verbandes „Rugby Deutschland“, der mit seiner Familie im hessischen Neckarsteinach lebt, über die Faszination Rugby, Ungerechtigkeiten sowie die deutschen Chancen auf eine WM-Teilnahme.
Sie haben bisher alle Spiele der diesjährigen WM im Stadion oder im TV gesehen. Wie lautet Ihr Zwischenfazit?
Rein auf das Event und die Zuschauerzahlen bezogen, ist das sehr gelungen. Aber es ist meines Erachtens offenkundig, dass die Lücke zwischen den Tier-eins-Nationen (Anm. d. Red.: Top-Elf der Welt) und den Tier-zwei-Nationen größer geworden ist. Eine WM mit 20 Mannschaften funktioniert unter diesen Umständen nicht. Das ist kein fairer Wettbewerb. Namibia hatte vier Spiele in nur 19 Tagen, danach war die WM für sie beendet. Einige große Nationen hatte da noch nicht mal ihr drittes Spiel absolviert. Da zeigt sich die Zweiklassengesellschaft.
Woran lässt sich das sonst noch festmachen?
An den Ergebnissen, die sind wieder deutlicher geworden. Ein 96:0 wie bei Frankreich gegen Namibia gab es bei den vorherigen zwei Weltmeisterschaften nicht. Das liegt auch daran, dass die kleineren Nationen keine Testspiele gegen Tier-eins-Teams bekommen und keine Chance haben, sich auf dieses Tempo vorzubereiten. Und bei der WM kommen sie sich dann vor wie der Löwe in der Manege. Die Besseren sind sich leider für Vieles zu fein.
Nach der 26:32-Auftaktniederlage von Fidschi gegen Wales war davon die Rede, dass die Kleinen verpfiffen werden…
Ein, zwei Spiele sind etwas verrutscht, unter anderem Fidschi gegen Wales. Aber die Schiedsrichter machen allgemein einen sehr guten Job. Das Problem ist aber identisch: Die Testspiele der Tier-zwei-Nationen werden zu selten von den Schiedsrichtern gepfiffen, die bei der WM zum Einsatz kommen. Seit 2003 gab es zum Beispiel bei der WM keine spanisch-sprechenden Schiedsrichter, obwohl Argentinien, Chile und Uruguay dabei sind. Diskussionswürdig ist auch die Dauer der Sperren: Der Spieler von Namibia, der Frankreichs Superstar Antoine Dupont am Kopf traf, bekam sechs Spiele Sperre, andere bei vergleichbaren Vergehen nur drei. Das ist aber keine Kritik an den Schiedsrichtern.
Sondern?
Am sogenannten Bunker-System (Anm. d. Red.: Kommission, die innerhalb von acht Minuten darüber befindet, ob aus einer Zeitstrafe eine Rote Karte wird). Grundsätzlich ist das eine gute Sache. Aber so was erfordert Erfahrung und hätte man früher testen müssen. Die Entscheidungen sind so divergent, dass es nicht nur für Zuschauer, sondern auch für Experten oft nicht zu verstehen ist. Dass Aktionen gegen den Kopf härter geahndet werden, ist jedoch gut und der richtige Weg in einem so unfassbar dynamischen und physischen Sport.
Der Video-Referee im Rugby scheint deutlich besser zu funktionieren als beim Fußball. Warum?
Der Zuschauer sieht, was entschieden wird. Das hilft extrem und macht es nachvollziehbar. Zudem ist die Kommunikation zwischen dem Schiedsrichter und dem TMO (Anm. d. Red.: Television Match Official) hörbar. Man versteht daher deren Denkprozess. Man hat grundsätzlich noch Respekt vor dem Schiedsrichter im Rugby.
Wenn nur noch der Kapitän mit dem Schiedsrichter reden darf, ist ruckzuck Ruhe. Aber es ist beim Fußball wohl Teil der Show.
Manuel Wilhelm über den Respekt gegenüber dem Schiedsrichter
Was kann Fußball außerdem vom Rugby lernen?
Der Fußball lebte lange nach dem Motto: ‘Wenn es nicht kaputt ist, repariere es nicht’. Damit ist man auch lange gut gefahren. Jetzt gibt es die ersten Problemchen, allerdings auf einem Niveau, von dem andere Sportarten nur träumen können. Dass sich der Fußball gewisse Dinge wie Torlinientechnik und Video-Referee bei anderen Sportarten abschaut, finde ich legitim. Was ich nicht verstehe, ist der Umgang mit den Schiedsrichtern. Das wäre so einfach zu lösen: Wenn nur noch der Kapitän mit dem Schiedsrichter reden darf, ist ruckzuck Ruhe. Aber es ist beim Fußball wohl Teil der Show. Anders kann ich es mir nicht erklären.
Laut DRV-Präsident Harald Hees aus Heusenstamm benötigt der Verband nur etwas mehr Geld, um sich erstmals für die WM zu qualifizieren. Welche Summe wäre dafür nötig?
Um ein Team aufzubauen, das 2027 – was nur bei einer Aufstockung auf 24 Teams realistisch wäre – oder 2031 dabei sein könnte, bräuchte man fünf Millionen Euro pro Jahr. Das wäre die Grundvoraussetzung, um überhaupt eine Chance zu haben. Aber wir wollen ja nicht nur einmal kurz bei einer WM vorbeischauen, sondern uns dauerhaft entwickeln. Man kann und darf nicht die Basisschritte überspringen. Die Lösung kann nur sein, die Kräfte zu bündeln. Es gibt viele, die im Internet große Reden schwingen, aber zu wenige, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten einbringen, zum Beispiel als Jugendtrainer. Rugby ist so ein cooler Sport. Aber es braucht mehr Eigeninitiative.
Einer, der sich einbrachte, war Milliardär Hans-Peter Wild (Anm. d. Red.: u.a. Capri-Sonne). Er hat eigenen Angaben zufolge 20 Millionen Euro ins deutsche Rugby investiert, zog sich aber verärgert zurück und ist nun Chef des Topklubs Stade Français.
Ich will darüber eigentlich gar nicht viel sagen. Nur so viel: Er hat das Geld in seine eigene GmbH und deren Organe gesteckt. Da hat leider ein bisschen die gemeinsame Strategie gefehlt. Ich mache ihm da keinen Vorwurf. Er war meiner Meinung nach nicht gut beraten.
2016 und 2017 besiegte Deutschland in Frankfurt (24:21 gegen Uruguay) und Offenbach (41:38 Rumänien) zwei aktuelle WM-Teilnehmer. Mit Portugal war man 2019 in Frankfurt (32:37) auf Augenhöhe. Was haben diese drei Nationen seitdem besser gemacht?
In Rumänien ist nichts besser geworden. Deren nationale, semi-professionelle Liga ist geschrumpft und die WM-Teilnahme hatte man Punktabzügen anderer Nationen zu verdanken. Portugal macht eine gute Jugendarbeit und hat echt starke U-Nationalteams. Uruguay war damals bei der Niederlage in Frankfurt zugegebenermaßen auf der Durchreise und kam erst wenige Stunden vorher an. Dort setzt man auf ein Modell der Zentralisierung – in Montevideo – und sehr stark auf die Strategie der Verknüpfung zwischen Siebener- und 15er-Nationalteam. Die aktuellen WM-Spieler sind größtenteils im gleichen Klub aktiv und nehmen mit diesem am Südamerika-Cup teil. Es gibt dort auch eine klare hierarchische Pyramide. Bei Entscheidungen haben strategische Ziele immer Vorrang.
Mit der Siebener-Auswahl hat Deutschland bereits an einer WM teilgenommen. Was ist Ihrer Meinung nach realistischer: Dass sich Deutschland für die World Sevens Series qualifiziert oder für die WM in der 15er-Variante?
Wenn die WM auf 24 Teams aufgestockt wird, sehe ich die Chancen gleichgroß. Bis dahin sind die Chancen der Siebener-Auswahl trotz der Reduzierung der World Series auf zwölf Teams größer.
Das Gespräch führte Christian Düncher