Der andere Weg aus dem Gefängnis

Dresden. Es ist ein Gedenklauf von Sheffield nach Leeds, von Stadion zu Stadion – in Erinnerung an eine junge Britin. Kimberly Wadsworth hieß sie, geboren im Jahr 1985. 33 Jahre später nahm sie sich das Leben – nachdem sie 44.000 Pfund bei Sportwetten verspielt hatte. Ihre Mutter verkaufte sogar noch das Haus, um der Tochter bei den angehäuften Schulden zu helfen. Doch Kimberly sah nur noch einen Ausweg. „Es ist zu spät für mich“, schrieb sie. Es war die letzte Nachricht an ihre Mutter.

Die Verzweiflung kann Thomas Melchior gut verstehen. Der Dresdner ist am Start bei jenem Gedenklauf am 14. Oktober, der über zwei Tage und rund 60 Kilometer geht. Melchior war selbst gefangen in der Sucht, die man anders als bei Alkoholikern oder Drogensüchtigen niemandem ansieht. Insgesamt 800.000 Euro waren es bei ihm, in 13 Jahren mit Sportwetten im Internet verspielt. Geld, das ihm größtenteils nicht gehörte. Rückblickend sagt Melchior: „Ich war an einem Punkt angekommen, an dem ich nur noch zwei Optionen gesehen habe: Ich nehme mir das Leben oder ich werde verhaftet.“

Spielsucht ist keine Bagatelle. Bei keiner Sucht ist die Selbstmordgefahr so hoch wie bei der Glücksspielsucht. „Ich wurde zum Glück verhaftet“, sagt er. Das war im Januar 2019, als in der Altmarkt-Galerie in Dresden die Handschellen klickten. Wegen Betrugs und Unterschlagung wurde Melchior zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, diesen Mai nun wurde er nach zwei Dritteln seiner Haftstrafe vorzeitig auf Bewährung entlassen. Es ist zugleich der Moment, vor dem viele Gefangene Angst haben. Wohin jetzt? Was machen? Es passiert nicht selten, dass Straffällige in ihr altes Umfeld zurückgehen, rückfällig und sogar zum Wiederholungstäter werden.

Melchior geht einen anderen Weg. Von Anfang an sah er seine Haft als Chance. Er setzte sich intensiv mit dem Thema Sportwetten auseinander, schrieb ein Buch und suchte Kontakte in die Öffentlichkeit. Er will warnen, aufklären. „Es geht nicht darum, mein eigenes Fehlverhalten zu relativieren, sondern andere Leute vor einem ähnlichen Absturz zu schützen“, betont er.

In Deutschland sind laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung rund eine halbe Million Menschen glücksspielsüchtig. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. „Knapp fünf Prozent der hiesigen Bevölkerung hat in den letzten zwölf Monaten auf Sportergebnisse gewettet. Knapp ein Drittel von ihnen spielt riskant und bei jedem Fünften ist eine glücksspielbezogene Störung festzustellen“, verdeutlicht Burkhard Blienert, der Bundesbeauftragte für Sucht- und Drogenfragen.

Oft sind Sportwetter auch gar nicht die typischen Zocker, die an einem Automaten in einer Spielothek die Nächte verbringen. Melchior zum Beispiel war gestandener Banker, arbeitete bei der Sparkasse in München und hatte sich ein gutes Leben aufgebaut – bis er 2005 mit einer scheinbar harmlosen Wette seine Sucht begann, ausgelöst durch eine Werbung in der Halbzeitpause beim Champions-League-Spiel von Bayern München gegen Rapid Wien.

Er setzte die ersten zehn Euro, gewann elf – und war sofort angefixt. Irgendwann bestimmte das Wetten den Alltag, er vernachlässigte Freunde und Familie, verlor seinen Job. Eine sechswöchige Therapie 2010 half nur kurz. Dann war er wieder in der Spirale. Dabei hatte er sich bei Wettanbietern mit dem Verweis auf seine Spielsucht sperren lassen. Doch ein halbes Jahr später fragte er an, ob das Konto wieder aktiviert werden könne. Es ging problemlos, nachdem er auf Nachfrage bestätigt hatte, nicht mehr süchtig zu sein.

Natürlich war er noch süchtig, und nun bekam er von den Wettanbietern noch lukrativere Angebote. „Die Süchtigen finanzieren den Sportwettenmarkt“, weiß Melchior inzwischen. Und das Geschäft boomt. Im Jahr 2021 machte allein der deutsche Markt 9,4 Milliarden Euro Umsatz – ein Rekordwert, der vor allem auf den Verlusten von Kunden wie Melchior fußt.

Sportwettenwerbung ist allgegenwärtig– im Stadion, im Fernsehen. Melchior kritisiert, wie lax noch immer mit dem Thema umgegangen wird, und auch der Suchtbeauftragte Blienert erklärt: „Ich will nicht den Moralapostel spielen, aber gerade der Fußball sollte sich seiner Vorbildfunktion bewusster sein. Derzeit muss für Kinder und Jugendliche der Eindruck entstehen, dass Wetten und Sport untrennbar zusammengehören. Aber nein, so ist es nicht. Sportwetten gehören genauso wenig auf die Stadionbanden wie Bier.“

Melchior, der selbst mal Fußball in Niesky und beim Dresdner SC spielte, geht einen Schritt weiter: „Ich würde mir wünschen, dass ein Verein mal sagt, wir machen nicht mehr mit. Uns sind die eigenen Fans wichtiger als das Geld“, sagt er. Auch für Dynamo Dresden ist der Wettanbieter bwin seit Jahren ein finanzstarker Partner, auf den der Klub nicht verzichten will. Melchior, der selbst ein Fan des Drittligisten ist, möchte zumindest auf die Gefahren aufmerksam machen, wie schnell das Leben auf dem Spiel stehen kann. Weiter …

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